Eine Europareise der Superlative: 32'326 Kilometer, 904'431 Höhenmeter | W&O

16.12.2022

Eine Europareise der Superlative: 32'326 Kilometer, 904'431 Höhenmeter

Jens Pippig und Stephanie Schneider, die seit kurzem in Grabs wohnen, erzählen von ihrem zweijährigen Europaabenteuer, das ihrem Leben eine neue Wende gegeben hat.

Von heini.schwendener
aktualisiert am 28.02.2023
Jens Pippig, aufgewachsen in Zwickau und seit kurzem wohnhaft in Grabs, war in zwei Jahren 102-mal auf dem Mount Everest. Rein rechnerisch, nicht real. Der 37-Jährige hat während einer Abenteuerreise durch Europa 904'431 Höhenmeter im Aufstieg zurückgelegt, und danach auch wieder runter.

Im Spital von seiner späteren Liebe betreut

Doch zum Anfang der Geschichte: Jens Pippig verunfallte 2009 mit dem Mountainbike – «es war jugendlicher Leichtsinn!» Im Spital betreute ihn Krankenschwester Stephanie Schneider aus Singen. Die zwei wurden ein Paar und übersiedelten in die Schweiz, näher zu den Bergen. Seinen «jugendlichen Leichtsinn» hat Pippig inzwischen abgelegt. Sonst wäre er von seinen teils waghalsigen Mountainbike- und Splitboardtouren auf über 400 Gipfel in sieben Gebirgszügen Europas nicht mehr heil zurückgekehrt.

Auszeit: Nicht darüber reden, sondern tun

Im Jahr 2019 beschloss das Paar: Wir nehmen uns eine Auszeit. Jens Pippig erzählt:
Andere reden jahrelang darüber und machen es nie, wir haben zuvor nie darüber geredet, sondern uns von heute auf morgen dafür entschieden.
 Sommer am Schwarzen Meer, hier: Sozopol, Bulgarien.
Sommer am Schwarzen Meer, hier: Sozopol, Bulgarien.
Wenige Tage später wurde ein VW Bus bestellt und schon startete im Februar 2020 die Europareise. Zwei Jahre und einen Monat später, am Ende ihrer Tour, hatte der Bus rund 30'000 Kilometer auf dem Tacho. Und Jens Pippig 32'326 Kilometer in den Beinen. Und – wie erwähnt – 904'431 Höhenmeter Anstieg absolviert. Zurückgelegt hat er sie per Rennrad, Mountainbike, zu Fuss und mit dem Splitboard. [gallery link="file" ids="31289,31295,31277,31266,31290,31271,31281,31282,31283,31267,31287,31285,31278,31296,31279,31280,31272,31293,31288,31270,31275,31292,31294,31274,31276,31269"]

Jeder Meter jeder Tour ist dokumentiert

Der Chemielaborant ist ein Perfektionist und akribisch genau. Jeder Meter seiner 529 Touren in 757 Tagen ist dank der App Strava dokumentiert, zusätzlich beschrieben und mit Tausenden von Bildern illustriert. Pippig hat bei seinen Gipfelstürmen stets eine Kamera mit kleinem Stativ mitgeführt. Bei den technisch anspruchsvollsten Mountainbikeabfahrten hat er teils mit einer kleinen Kamera, die er im Mund hatte, seine Abenteuer gefilmt.

Piggpig sich nicht als Extremsportler

«Ich bin kein Extremsportler, sondern ein Abenteurer», meint er, der bis zu 15'000 Höhenmeter pro Woche zurücklegt. Pippig geht auf seinen Bergexkursionen selten ausgetretene Pfade. Er macht zuerst Erkundungstouren, bei denen ihn seine Freundin begleitet. Dabei sucht er sich Wege im Gelände, um Pässe und Gipfel zu erklimmen. Pippig hatte 24 Gigabyte Kartenmaterial dabei, das er auch offline nutzen konnte. Karten zu studieren ist ein wesentlicher Teil seiner Touren. Pippig sagt denn auch:
Wäre ich 200 Jahre früher geboren, ich wäre Kartenzeichner geworden.
 Eingeschneit, hier: Popova Sapka, Šar Planina, Nordmazedonien.
Eingeschneit, hier: Popova Sapka, Šar Planina, Nordmazedonien.
Wenn ihm beim Studium des Geländes eine Abfahrt möglich scheint, dann wird mit dem Mountainbike den Berg hochgefahren. Wenn Fahren nicht mehr geht, wird geschoben und getragen – wenn es sein muss 1200 Höhenmeter.

Ein Spinner? Mitnichten

So einer wird wohl häufig als Spinner bezeichnet. Pippig macht andere Erfahrungen mit den wenigen Berggängern, denen er begegnet. Der topfitte 37-Jährige sagt:
Wer sich ebenfalls in solchem Gelände aufhält, kann meine Leistung einschätzen. Man begegnet mir mit Bewunderung und Interesse.
Stephanie Schneider fuhr die ganze Europareise im VW Bus ihrem radelnden Freund hinterher oder voraus. «Ich hatte viel Zeit, die Natur zu beobachten und zu geniessen», sagt sie. Diese Entschleunigung des Lebens habe sie genossen.
 Stephanie Schneider hilft in einem Rebberg aus.
Stephanie Schneider hilft in einem Rebberg aus.
Ihre Aufgabe als «Dienstleisterin», die Pippig den Rücken für seine Bergerlebnisse freihielt, hat sie erfüllt: Neben dem Fahren kam das Kochen, die Wäsche, das gemeinsame Auskundschaften möglicher Touren und vieles mehr dazu.

Auch die Partnerin darf keine Angst haben

Ängste hat sie kaum ausgestanden, wenn ihr Freund in unbekanntem und gefährlichem Gelände unterwegs war:
Jens geht alles sehr strukturiert und mit Köpfchen an. Die Gegend wird gut erkundet und ausserdem hat er sehr viel Erfahrung.
Pippig seinerseits betont, sich der Gefahren bewusst zu sein.
An den meisten Orten hätte mir niemand helfen können, ich wusste darum, dass nichts schief gehen durfte und ging kalkulierbare Risiken ein.
Trotz allem hatte er zwei grenzwertige Erfahrungen und dabei kurzfristig die «Hölle erlebt».

Genügsamer und ressourcenschonender

Die zweijährige Reise mit nur so viel bzw. so wenig Kleidung und Material, wie der Bus fassen konnte, hat das Leben des Paares verändert.
Wir haben gelernt, dass man auch mit wenig sehr glücklich sein kann.
Heute leben sie ressourcenschonender, haben ihren Konsum zurückgefahren und sind genügsamer geworden. Defektes wird repariert, die Habseligkeiten werden getragen, bis sie nichts mehr taugen, und nicht, bis sie aus der Mode gefallen sind.

In den Bergen der W&O-Region unterwegs

30 Länder haben Pippig und Schneider erkundet. Doch nun stehen die Alvierkette, die Churfirsten und der Alpstein auf dem «Gipfelsammler-Programm» Pippigs. 25 hat er bereits erklommen, meist mit dem Mountainbike auf den Schultern. Dabei startet er immer unmotorisiert von Grabs aus. Vom Fernweh sind die beiden aber noch längst nicht geheilt. Es muss ja nicht unbedingt der Mount Everest sein.