«Da, ein Eisvogel», sagt Tom Bischof erfreut. Der blau-schimmernde Vogel schiesst über die Wasseroberfläche und setzt sich auf einen morschen Pfahl. Es ist ein verregneter Tag im Spätsommer, wie es 2025 so viele gab. Bischof sucht das Bodenseeufer zwischen Staad und Altenrhein mit dem Fernglas ab. Der 39-Jährige erspäht einen Flussuferläufer, der zwischen groben Steinblöcken nach Insekten und Würmern sucht. Der rund 20 Zentimeter grosse und unauffällige Vogel ist in der Schweiz selten geworden und steht auf der roten Liste.
Bischof sucht genau diese Vogelarten. Denn der Umweltingenieur und selbstständige Ornithologe aus Untereggen hat Grosses vor. Zusammen mit Birdlife St.Gallen und zahlreichen Freiwilligen will er in den kommenden drei Jahren die Bestände von seltenen Brutvögeln in der Ostschweiz erfassen.
Projekt will Wissenslücken schliessen
In den aktuell verfügbaren Daten gibt es oft grosse Wissenslücken. Zuletzt wurde vor 42 Jahren eine systematische Bestandesaufnahme der Brutvögel im Kanton St.Gallen durchgeführt. «Eine Pionierarbeit.» Zwar füttern heute Hobbyornithologinnen und Vogelliebhaber die nationale Datenbank Ornitho.ch täglich mit Hunderten Vogelbeobachtungen. Auch liefert der in regelmässigen Abständen erscheinende Schweizer Brutvogelatlas aktualisierte Zahlen. «Doch die Einzelbeobachtungen und die hochgerechneten Daten im Atlas ergeben nur ein grobes Bild», sagt Bischof. Eine umfassende Übersicht fehlt.
Aber gerade bei Bauvorhaben, bei der Planung von Artenförderungsprojekten und ganz allgemein für den Naturschutz, sind präzise Daten und Verbreitungsgebiete von seltenen Brutvögeln immer wichtiger. «Ökobüros und Planungsstellen müssen häufig bei null anfangen.»
In den vergangenen Jahren hat sich ein regelrechter Boom ums Beobachten von Vögeln entwickelt. Ornithologische Grundkurse sind landauf landab ausgebucht. Nicht nur am Bodenseeufer, auch im Alpstein, im Rheintal und in Moor- und Sumpfgebieten halten die Leute Ausschau nach grossen und kleinen Vögeln. «Die Natur vor der Haustür interessiert mehr und mehr», sagt Bischof.
Vogelkundler nutzen Beobachtungsboom
Lokal sei inzwischen viel Wissen vorhanden. Die Menschen merken sich einmal entdeckte Bruthöhlen von Waldkäuzen, beobachten Mauer- und Alpensegler bei der Aufzucht der Jungen und freuen sich, wenn sie einen Pirol hören. «Dieses Schwarmwissen wollen wir uns im Projekt Avifauna zu Nutze machen.» Citizen Science heisst es im Fachjargon, wenn sich Bürgerinnen und Bürger an wissenschaftlicher Forschung beteiligen.
Die siebenköpfige Arbeitsgruppe von Birdlife St.Gallen hat die Fläche der Kantone St.Gallen und der beiden Appenzell in fünf mal fünf Kilometer grosse Quadrate unterteilt. Jetzt werden Freiwillige gesucht, die diese sogenannten Atlasquadrate in den kommenden drei Jahren regelmässig nach sechzig der in der Schweiz rund 200 Brutvogelarten absuchen und ihre Beobachtungen kartieren.
«Wir sprechen nicht nur Profis an, sondern einfach alle, die über ein ornithologisches Grundwissen verfügen und sich beteiligen wollen», sagt Bischof. Studierende, Pensionierte, Jäger, Mitglieder von lokalen Naturschutzvereinen, Jung und Alt. «Freude und Motivation sind essenziell.»
Bestenfalls komme für jedes Quadrat ein kleines Team zusammen, so könne man sich aufteilen. Am Sonntag, 9. November, findet von 9 bis 14 Uhr im Pfalzkeller in St.Gallen ein öffentlicher Informationsanlass statt – mit Kaffee, Gipfeli und Erfahrungsberichten aus den Testkartierungen in diesem Jahr.
Auch Koloniebrüter stehen im Fokus
«Um die Kartierung einfacher zu machen, haben wir die Lebensräume der 60 Vogelarten unterteilt», erläutert Bischof. Je nach Gebiet sind andere Vogelarten wahrscheinlich. Schwarzkehlchen, Goldammer und Co. eher in Grasland und Hecken; Alpenschneehuhn und Schneesperling nur im Gebirge; und Haubentaucher, Eisvogel und Reiherente ausschliesslich an Gewässern. «Es gibt einfachere, flachere Gebiete und es gibt topografisch anspruchsvollere Atlasquadrate, etwa im Alpstein oder im Sarganserland.»
Aber die anfallenden Reisespesen werden den ehrenamtlichen Kartierteams entschädigt, betont Bischof. Das ambitionierte Projekt wird auch vom Lotteriefonds des Kantons St.Gallen unterstützt.
Mit dem Projekt Avifauna wollen die Verantwortlichen nebst der Forschung auch sensibilisieren. «Wir wollen aufzeigen, wie stark die Bestände gewisser Vogelarten in St.Gallen und Appenzell in den letzten Jahrzehnten abgenommen haben.» Auf den ersten Blick verwunderlich ist der Einbezug von Kormoranen, Weissstörchen und Graureihern in die Brutvogelzählung. «Da die Arten in Kolonien auf Bäumen brüten, kommt es wegen den Nestern immer wieder zu Diskussionen – da wird es schnell politisch.» Deshalb seien auch bei diesen Arten verlässliche Daten wichtig, sagt Bischof.
Hinweis: Startanlass zum Projekt Avifauna SG, AI, AR; Sonntag, 9. November von 9 bis 14 Uhr im Pfalzkeller St.Gallen. Weitere Informationen und Reservation von Atlasquadraten unter www.birdlife-sg.ch/avifauna-st-gallen-appenzell.
Erstmals seit 42 Jahren werden seltene Brutvögel in der Ostschweiz gezählt – Freiwillige helfen der Wissenschaft