«Es schnürt die Luft zum Atmen ab»: Zwei Ukrainerinnen helfen Angehörigen von der Schweiz aus | W&O

18.03.2022

«Es schnürt die Luft zum Atmen ab»: Zwei Ukrainerinnen helfen Angehörigen von der Schweiz aus

Zwei im Toggenburg lebende Ukrainerinnen erzählen von ihren Ängsten und ihren Sorgen um ihre Angehörigen in der Heimat.

Von Beat Lanzendorfer
aktualisiert am 28.02.2023
Die Koffer waren gepackt. Bettina wollte ab dem 26. Februar während eines Monats zum ersten Mal in ihrem Leben Kiew besuchen, die Hauptstadt ihrer Heimat. Zwei Tage zuvor fielen die ersten Bomben über der Ukraine. Ihre Pläne wurden über den Haufen geworfen. Die 27-Jährige kam vor rund zweieinhalb Jahren durch ihre drei Jahre ältere Cousine Viktoria in die Schweiz. Die Cousine hatte vor fünf Jahren den Weg via Deutschland ins Toggenburg gefunden. Beide arbeiten im selben Restaurant. Bettina Voll-, Viktoria Teilzeit. Obwohl beide erst wenige Jahre hier leben, sprechen sie ausgezeichnet Deutsch. Nebst ihrer Tätigkeit im Restaurant fand Viktoria eine Anstellung in einer Fabrik, die für ihre feine Schokolade bekannt ist. Die Liebe hat sie hier auch gefunden. Mit ihrem Partner und dem gemeinsamen, zweieinhalbjährigen Sohn fühlt sie sich hier wohl. Weil Putins Arm bis in die Schweiz reiche, wollen Viktoria und Bettina nicht erkannt werden. Ihre Geschichte erzählen die beiden Ukrainerinnen im Restaurant, in dem sie arbeiten. Dabei fliessen auch Tränen. Was in den vergangenen zwei Wochen passiert ist, reisst ihnen manchmal den Boden unter den Füssen weg. Bettina sagt:
Wir sind machtlos und wissen nicht, was wir tun sollen. Es schnürt einem die Luft zum Atmen ab.

Die Sorgen um die Angehörigen

Die Tage vor und die Tage nach dem Kriegsausbruch am 24. Februar werden die beiden nie mehr aus ihrem Gedächtnis löschen können. Bevor Bettina für einen Monat in ihre Heimat reisen wollte, holte Viktoria ihre 68-jährige Grossmutter aus der Ukraine in die Schweiz. Diese hatte sich anerboten, auf ihren Urenkel zu achten – eine Aufgabe, bei der üblicherweise Bettina ihre Cousine unterstützte. Keine 24 Stunden vor Kriegsausbruch kehrte Viktoria mit ihrer Grossmutter zurück in die Schweiz. Die 30-Jährige sagt:
Ich war bereits wieder in der Frühschicht bei der Arbeit, als meine Mutter schrieb, der Krieg sei ausgebrochen. Ich konnte es nicht glauben und versuchte sie in der Pause zu erreichen. Ohne Erfolg.
Später am Tag hat es geklappt, Mutter, Vater und Bruder waren wohlauf, die Erleichterung war gross.
Bettinas Ferien in der Ukraine waren von einer Sekunde auf die andere weit weg. Einfach zu Hause rumsitzen wollte sie aber nicht. Am Mittwoch vorletzter Woche ist sie mit einem Kollegen mit dem Auto 1200 Kilometer bis zur ungarisch-ukrainischen Grenze gefahren. Als Ersatzwäsche mussten Hose, Pullover und T-Shirt reichen. Den übrigen Platz im Koffer nahmen Medikamente und Verbandsmaterial ein. Den Koffer schmuggelte sie zu Fuss über die Grenze. Sie sagt:
Zusammen mit mir haben viele Männer die Grenze überschritten, um sich für das Militär registrieren zu lassen.
Drüben angekommen, wurde Bettina von einem Bekannten abgeholt, der sie zu ihren Eltern ins acht Kilometer entfernte Beregovo gefahren hat. «Ich bin unmittelbar an der Grenze zu Ungarn aufgewachsen, nach Kiew hingegen sind es rund 800 Kilometer.»
 Bettina und Viktoria kommen aus Beregovo, das im Dreiländereck Ukraine, Ungarn, Rumänien liegt. Bis nach Kiew sind es rund 800 Kilometer. Quelle: Stepmap/Karte: jn
Bettina und Viktoria kommen aus Beregovo, das im Dreiländereck Ukraine, Ungarn, Rumänien liegt. Bis nach Kiew sind es rund 800 Kilometer. Quelle: Stepmap/Karte: jn
  Tags darauf hat Bettina einen Grosseinkauf getätigt, um ihre Angehörigen mit den nötigsten Grundnahrungsmitteln einzudecken.
24 Stunden später war dies bereits nicht mehr möglich, weil viele Lebensmittel rationiert wurden.
Tags darauf überschritt Bettina die Grenze dann in die Gegenrichtung und ist von Budapest aus mit dem Zug in die Schweiz zurückgekehrt. «Die rund 300 Kilometer von der Grenze bis in die ungarische Hauptstadt hat mich eine Frau mit dem Auto mitgenommen. Die Menschen sind sehr hilfsbereit.»

Menschen in der Ukraine wollen Frieden

Über Putin mögen die beiden Frauen nicht sprechen. Nur so viel:
Was er macht, ist nicht korrekt und kann nicht im Sinne der russischen Bevölkerung sein.
Im Westen der Ukraine sei es zwar noch relativ ruhig, trotzdem machen sich Viktoria und Bettina grosse Sorgen um ihre Angehörigen. Dazu Bettina: «Mein Vater hatte schon Besuch vom Militär. Sie haben ihm mitgeteilt, dass er jederzeit bereit sein muss. Er hat seinen Militärdienst vor 37 Jahren geleistet, jetzt ist er 56.» Er möchte nicht in den Krieg, denn die Russen seien doch wie seine Brüder. Zumindest ist er bis jetzt davon ausgegangen. «Die Menschen in der Ukraine wollen Frieden. Viele, darunter die junge Generation, können nicht verstehen, was gerade passiert», ergänzt Viktoria. Sicher vierzig Prozent der ukrainischen Bevölkerung hätten Verwandte in Russland. Umgekehrt sei es dasselbe. Bettina sagt: «Wir sind doch wie Brüder und Schwestern und haben dasselbe Blut.»

Eine Russin umarmte die Ukrainerinnen

Und um der Aussage Ausdruck zu verleihen, erklärt Viktoria: «Der Bruder meiner Grossmutter lebt in Russland und ist mit einer Russin verheiratet. Bisher verbrachte er abwechselnd drei Monate in Russland und drei Monate in der Ukraine.» Was er jetzt mache, könne sie nicht sagen, sie hätte schon länger keinen Kontakt mit ihm gehabt. Eines wisse sie aber mit Bestimmtheit:
Er liebt die Ukraine.
Und dann erzählt Bettina von einer Begebenheit, die widerspiegle, wie absurd dieser Krieg sei: «Letzte Woche war eine Russin Gast bei uns im Restaurant im Toggenburg. Die Situation war etwas komisch, beide Seiten haben sich zurückgehalten. Am Schluss ist sie zu uns gekommen und hat uns umarmt.» Sie könne das auch nicht verstehen und stehe hinter ihnen. Ihr tue es sehr leid für die Menschen. Die meisten Russen hätten aber keine Ahnung, was sich in der Ukraine abspiele, weil sie vom staatlich gelenkten Fernsehen manipuliert würden.

Konsulat unterstützt einen Hilfstransport

Mit Unterstützung des ukrainischen Konsulats in Bern konnte Viktoria vergangene Woche einen Hilfstransport in ihre Heimat organisieren. «Wir versuchen uns nützlich zu machen und finden dadurch etwas Ablenkung.» Dabei erhalten sie Unterstützung von ihrer Chefin im Restaurant, die schon oft gemeinsam mit ihnen geweint habe. «Viele der Gäste sind spontan zu uns gekommen und haben sich erkundigt, wie sie uns helfen können. Wir erfahren sehr viel Anteilnahme», sagt Viktoria. Durch die grosse Solidarität hätte der Hilfstransport praktisch vollständig durch Spendengelder finanziert werden können. Und Viktoria abschliessend:
Wir stehen jeden Morgen mit der Hoffnung auf, dass dieser Albtraum endlich ein Ende hat und unsere Liebsten in der Ukraine am Leben sind.
Hinweis: Namen der Redaktion bekannt.