Deutlich mehr Patientinnen und Patienten mit Long Covid als bisher angenommen erhalten eine Rente der Invalidenversicherung (IV). Das zeigt ein Bericht im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) mit Daten von 2021 bis 2023. Bisher ging man davon aus, dass bei IV-Anmeldungen im Zusammenhang mit einer Covid-Infektion 2021 in zwei Prozent der Fälle eine Rente gesprochen wurde, 2022 in 4 Prozent.
Die tiefen Rentenzahlen hatten für Kritik gesorgt, obschon das BSV darauf verwiesen hatte, nicht in allen Fällen sei die Diagnose Long Covid gesichert. Nun zeigt die genauere Analyse von 501 solcher Dossiers bei der IV von 2021 bis 2023, dass es bei 67 Prozent dieser Anmeldungen klare Hinweise auf Long Covid gibt. Diese Zahl könne sich nach weiteren Abklärungen noch erhöhen, schreiben die Autoren. Sie gehen aktuell von insgesamt 2900 angemeldeten Long-Covid-Patienten aus.
Von all jenen, die schon einen Rentenentscheid erhalten haben, hat ein Drittel eine Rente zugesprochen erhalten. Die Analyse zeigt, dass mehr Zeit vergeht, bis ein positiver Rentenbescheid vorliegt – Ablehnungen geschehen schneller. Mehr positive Entscheide werden daher noch folgen.
Die Ablehnungen betreffen häufiger Frauen als Männer. Warum dies so ist, konnten die Autorinnen nicht eruieren.
Long-Covid-Patienten erhalten häufig Renten – aber kleine
In der Auswertung fällt auf, dass Patientinnen mit Long Covid bei der IV keineswegs weniger Chancen auf Rente haben als andere Antragstellende. Im Gegenteil: Während angemeldete Long-Covid-Patienten bis Ende 2023 in 12 Prozent der Fälle eine Rente bezogen haben, waren es bei einer Referenzgruppe mit anderen Anmeldungsgründen nur 9 Prozent.
Zwar erhalten Long-Covid-Patienten häufiger eine IV-Rente als andere Antragsteller – aber es ist auch häufiger nur eine kleine Rente von 25-49 Prozent: 30 Prozent der Long-Covid-Patienten mit positivem Bescheid haben eine solche erhalten. In der Referenzgruppe erhielten 17 Prozent mit positivem Bescheid eine solche Rente. Dazu muss man wissen: Um überhaupt Anspruch auf eine Rente zu haben, muss der Invaliditätsgrad bei mindestens 40 Prozent liegen.
Dies erstaunt, da die Analyse gleichzeitig zeigt, dass neun von zehn Long-Covid-Patientinnen und -Patienten zum Anmeldezeitpunkt komplett arbeitsunfähig sind. Die Autorinnen und Autoren schätzen das nachfolgende Risiko eines Stellenverlustes bei Angemeldeten mit Long Covid denn auch höher ein als bei jenen ohne Long Covid: Während üblicherweise unter jenen, die bei der IV angemeldet sind, jede vierte Person ihre Stelle innerhalb von vier Jahren verliert, hat unter jenen mit Long Covid schon nach zwei Jahren jede vierte Person ihre Arbeitsstelle verloren.

Die Betroffenen leiden in der überwiegenden Mehrheit an Fatigue beziehungsweise Belastungsintoleranz und neurokognitiven Störungen. Die Autorinnen und Autoren schreiben, dies weise darauf hin, dass die Long-Covid-Betroffenen bei der IV «an besonders schweren Symptomen mit grossen Auswirkungen auf die Funktionalität» litten.
«Ein beträchtlicher Teil der Long-Covid-Fälle bei der IV dürfte demnach an Beschwerden vom Typ Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Erschöpfungssyndrom (ME/CFS) leiden», heisst es im Bericht. ME/CFS ist eine komplexe und schwerwiegende chronische Erkrankung, die durch anhaltende Müdigkeit, Schmerzen, kognitive Einschränkungen und eine Verschlechterung der Symptome nach Anstrengung gekennzeichnet ist.
Der Anteil der Personen mit chronischen Erkrankungen ist bei den Long-Covid-Patienten etwas höher als in der Allgemeinbevölkerung. Die Autoren weisen darauf hin, dass andere Erkrankungen (Komorbidität) zunehmen, je länger eine Person bereits bei der IV ist. Bei einem Teil der Komorbiditäten könnte es sich also nicht um Erkrankungen handeln, die bereits vor Long Covid bestanden haben, sondern eher um Begleiterscheinungen oder Folgen der Erkrankung.
Kognitive und psychische Auswirkungen wie Schlaf- oder Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen oder Depressionen könnten oft nicht klar von vorbestehenden psychischen Beeinträchtigungen unterschieden werden. Ein Drittel der Personen mit Long Covid, die nun bei der IV angemeldet sind, waren vor ihrer Erkrankung völlig gesund.
Nach zwei Jahren werden Verbesserungen sehr selten
Die Erhebung bestätigt, was von Long Covid bekannt ist: In den ersten zwei Jahren verbessert sich das Befinden oft. Auch bei den Personen, die bei der IV angemeldet waren, gab es bei immerhin 60 Prozent eine Verbesserung der Arbeitsfähigkeit. Doch wenn sich bis nach zwei Jahren nichts verändert hat, bleibt es oft so: 40 Prozent – insbesondere ältere Personen und solche mit mehreren gesundheitlichen Problemen – sind auch nach zwei Jahren noch arbeitsunfähig. Und längst nicht alle haben bis dahin eine Rente erhalten.
Bei immerhin 47 Prozent konnte innerhalb von zwölf Monaten eine Eingliederungsmassnahme verfügt werden. Dabei sind die Kosten für diese Massnahmen im Durchschnitt etwas tiefer als bei anderen Leistungsbezügerinnen und -bezügern.
Auch sonst scheinen Long-Covid-Patienten bei der IV weder zu erheblichen finanziellen noch zu personellen Belastungen zu führen. Diese Patienten machen bei allen Neuanmeldungen einen kleinen Anteil aus (1,8 Prozent), Tendenz sinkend. Erwähnt wird lediglich, dass die Abklärungen aufwendiger seien, weil es grosse Unsicherheiten bei der Diagnosestellung und der Beurteilung der Leistungseinschränkung gebe. Belastungsintoleranz sei schwer messbar.
Doch: Da weder für Long Covid noch für ME/CFS zurzeit eine etablierte wirksame Therapie zur Verfügung steht und die Prognosen für diese Erkrankungen schlecht sind, ist davon auszugehen, dass sich der Gesundheitszustand bei einem Teil der Long-Covid-Betroffenen mittel- wie längerfristig kaum verbessert und die Betroffenen lebenslang mit diesen chronischen Beschwerden leben müssen», so die Autoren des Berichtes. Gesundheitssysteme und Systeme der sozialen Sicherheit weltweit suchten Lösungen, wie mit dieser neuen Erkrankung umgegangen und wie den Betroffenen besser geholfen werden könne.
Für die IV bedeutet dies, dass Long Covid ein neues, ernst zu nehmendes Krankheitsbild darstellt, das eine beträchtliche Krankheitslast verursacht.
Da Varianten des Sars-CoV-2 weiterhin zirkulieren würden, bestehe durchaus das Risiko, dass sich die Neuerkrankungen etwa auf dem aktuellen Niveau halten werden.