Gab es im Schuljahr 2018/19 im Kanton St.Gallen erst drei Fälle von Schulabsentismus – Kinder, die sich über längere Zeit dem Schulbesuch verweigern –, so waren es im Schuljahr 2024/25 schon 57. Und das Ausmass von Schulabsentismus nimmt auch schweizweit von Jahr zu Jahr weiter zu.
Wirft man einen Blick in den Schulalltag, so ist das weiter nicht verwunderlich. Nicht weniger als sechs Prüfungen innerhalb einer einzigen Woche musste einer meiner Nachhilfeschüler bewältigen, und dies in der letzten Woche vor den Herbstferien, wenn die Kinder sowieso schon müde und ausgelaugt sind und sich nichts sehnlicher wünschen, als dass endlich die Ferien beginnen. Sechs Prüfungen, mehr als eine pro Tag. Dabei handelt es sich fast ausschliesslich um auswendig zu lernenden Wissensstoff, und dies in einer derartigen Fülle, dass ein vertieftes, nachhaltiges Lernen gar nicht möglich ist und der grösste Teil davon schon nach wenigen Wochen wieder vergessen sein wird. Was für eine Verschwendung von Zeit und Energie!
Das Schlimmste daran aber ist, dass auf diese Weise die ursprüngliche Lernfreude, die jedes Kind in seinen ersten Lebensjahren noch hat, nach und nach verloren geht, buchstäblich von Schuljahr zu Schuljahr, wie die bekannte Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm mit mehreren umfangreichen Studien belegt hat. Die Schlussfolgerung wäre eigentlich logisch: Die Schule müsste von Grund auf neu gestaltet werden, damit die Lernfreude nicht verloren ginge, sondern im Gegenteil weiter und weiter gestärkt würde.
Schaut man sich aber den Artikel zum Thema Schulabsentismus im W&O vom 30. September an, so ist weit und breit von einer Neugestaltung der Schule nichts zu lesen. Im Gegenteil: Nicht die Schule soll den Kindern angepasst werden, sondern die Kinder der Schule. Schulabsentismus, so die Bildungsverantwortlichen, sollte «möglichst früh erkannt werden», damit «in einem Elterngespräch die Gründe abgeklärt werden können» – als wären diese Gründe nicht schon längstens bekannt. Weiter sollen «Massnahmen» festgelegt werden, wobei es «essenziell» sei, dass «die Eltern und die Lehrpersonen dieselbe Sicht auf das Problem haben» – die Sicht der Kinder ist offensichtlich nicht gefragt. Komme es trotzdem zu weiteren Absenzen, solle «der Schulpsychologische Dienst» sowie «weitere Fachstellen beigezogen» werden. Könne damit immer noch keine «Besserung» erzielt werden, müsse der «Fall» schliesslich «an die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) weitergezogen» werden.
Eigentlich wüsste man schon längst, dass nicht die Kinder das Problem sind, sondern die Schule. Mit dem zunehmenden Schulabsentismus signalisieren uns die Kinder doch in aller Unmissverständlichkeit ihren Widerstand gegen eine Schule, die nicht ihren tatsächlichen Lern- und Lebensbedürfnissen entspricht. Wie viel seelisches Leiden von Kindern und Jugendlichen braucht es noch, bis wir endlich verstehen, dass es nicht die Kinder sind, die man therapieren muss, sondern einzig und allein die Schule selber.
Peter Sutter, Wiedenstrasse 32, 9470 Buchs
Wenn die Freude am Lernen verlorengeht