Die Schnecke und der Hase | W&O

Schweiz 16.08.2025

Die Schnecke und der Hase

Pädagoge Peter Sutter plädiert in seinem Leserbrief, von den Schülerinnen und Schülern Druck wegzunehmen – und sie keine Prüfungen mehr schreiben zu lassen. Die Lust, zu lernen, soll genügen.

Von Peter Sutter
aktualisiert vor 5 Stunden
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«Oh Gott, jetzt klappt es nicht», Ausgabe vom 11. August

Gemäss dem Artikel sind Schulprüfungen und Leistungsdruck die häufigsten Stressfaktoren bei Jugendlichen. «Mein ganzer Körper beginnt zu zittern, als wollte er die Angst wegschütteln», sagt eine Mittelschülerin.

Gemäss einer Umfrage von Pro Juventute leiden über zwei Fünftel der Jugendlichen unter übermässigem Leistungs- und Prüfungsdruck. Der Psychologe und Lerncoach Fabian Grolimund rät den Eltern, ihren Kindern zu signalisieren, dass sie ihnen stets ein «sicherer Hafen» sind und ihnen im Zusammenhang mit schlechten Schulleistungen nie Vorwürfe machen sollten. Mit dieser Forderung würde man es sich aber wohl zu einfach machen. Denn wie soll es einem Vater oder einer Mutter gelingen, ihr Kind, wenn es sich mit grösstem Eifer auf eine Prüfung vorbereitet hat und dennoch eine schlechte Note bekommt, wieder aufzubauen?

Auch häufig empfohlene Rezepte wie Strategien zur Stressbewältigung, Sport als Ausgleich, Mutmachgeschichten, Entspannungsübungen oder ein bewusst herbeitrainierter «Perspektivenwechsel» greifen zu kurz. Denn das eigentliche Problem sind nicht die Kinder, auch nicht die Eltern, sondern die Schule selber, die viel zu stark – und in immer noch weiter steigendem Masse – auf Druck, Stress, Prüfungen und Noten setzt, obwohl man schon längst weiss, dass Prüfungen, die sämtliche Kinder einer Klasse mit dem gleichen Massstab miteinander vergleichen, in entwicklungspsychologischer Hinsicht ein völliges Unding sind, weil sich nämlich die Kinder einer Schulklasse in der Entwicklung ihrer Lernvoraussetzungen und ihrer individuellen Lernbedürfnisse meilenweit voneinander unterscheiden.

Diese so unterschiedlichen Kinder miteinander zu vergleichen und aneinander zu messen, ist das Gleiche, wie wenn man eine Schnecke und einen Hasen auf die genau gleich lange Rennbahn schicken würde. Die Schnecke könnte sich noch so sehr anstrengen, niemals würde sie den Hasen einholen können. Das wusste schon der bekannte Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi, als er vor über 250 Jahren sagte:

Vergleiche nie ein Kind mit dem andern, sondern stets nur jedes mit sich selber.

Statt sich mit Entspannungsübungen und Lern­coaching vom angerichteten Schaden zu erholen, wäre es viel gescheiter, den Schaden gar nicht erst anzurichten, sprich: Prüfungen solcher Art schlicht und einfach abzuschaffen. Denn gutes und erfolgreiches Lernen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es nicht mit künstlichen Mitteln überprüft werden muss, so wie wir das bei den Kindern in ihren ersten Lebensjahren sehen, wenn sie ihre Muttersprache bis zur Perfektion aus eigener Kraft erlernen, ohne noch in die Schule gegangen und ohne je irgendeine Prüfung absolviert zu haben, einfach aufgrund ihres angeborenen Lerneifers, ihrer Neugierde und ihrer Lernfreude.

Peter Sutter,
Wiedenstrasse 32, 9470 Buchs