Exkursion mit dem Wildhüter in Wildhaus: Ein verunglückter Steinbock als Festessen | W&O

31.01.2022

Exkursion mit dem Wildhüter in Wildhaus: Ein verunglückter Steinbock als Festessen

Eine Exkursion mit dem Wildhüter Urs Büchler nimmt eine dramatische Wendung. Und wird zur Lektion über Leben und Tod.

Von Melissa Müller
aktualisiert am 28.02.2023
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Irgendwo da oben, am Fusse des Wildhauser Schafbergs, liegt ein Steinbock, seit zwei Wochen tot. Von einer Lawine verschüttet. Ein Wanderer hat dies dem Toggenburger Wildhüter Urs Büchler gemeldet. «Ich will das Gehörn abtrennen und für Ausbildungszwecke mitnehmen. Wenn ihr wollt, könnt ihr mitkommen und zuschauen», sagt Urs Büchler mitten auf einer WWF-Exkursion, die er leitet.

Unter dem Titel «Tiere im Winter – Dicke Pelze» zeigt der Wildhüter, wie man Tierspuren im Schnee liest. Wie bitte, und nun steht auch noch eine Steinbock-Köpfung auf dem Programm? Erst denken die zehn Teilnehmenden der Exkursion, Büchler mache einen Witz. Sie stapfen in Schneeschuhen von Wildhaus auf die Hochebene Gamplüt und ahnen noch nicht, dass ihnen eine aussergewöhnliche Biologielektion bevorsteht.

Die weissen Zacken der Churfirsten glänzen im Sonnenlicht, darüber ein stahlblauer Himmel. Unterwegs pflückt Büchler ein paar braune Kügelchen aus dem Schnee: Kot von Hirschen und Rehen. Je nach Form kann er ablesen, ob die Hinterlassenschaften von Weibchen oder Männchen stammen.

Durch sein Revier streifen Luchs und Wolf

«Hier gibts auch Schneehasen», sagt Büchler. Seit 26 Jahren als Wildhüter tätig, kennt er das Obertoggenburg wie kein zweiter. «Ich mache diese Arbeit immer noch mit Herzblut», sagt der Vater zweier erwachsener Kinder, der in der Freizeit fischt, gärtnert und Bienen züchtet.

Der 54-Jährige ist einer von sieben Wildhütern im Kanton. Sein Gebiet umfasst Lichtensteig bis Wildhaus und das hintere Neckertal mit Hemberg und St.Peterzell. Während sein Berufskollege Mirko Calderara, der für die Stadt St.Gallen, das Fürstenland und das Sittertobel zuständig ist, mehrheitlich mit Fuchs, Krähe, Wildschwein und Reh zu tun hat, leben in Büchlers Revier im Churfirstengebiet und im Alpstein auch Hirsche, Steinböcke und Gämsen, aber auch Grosswildtiere wie Luchs und Wolf.

 Urs Büchler untersucht Auerhahnkot.
Urs Büchler untersucht Auerhahnkot.
Bild: Urs M. Hemm (2. März 2021)

Büchler hat stets seine anhängliche hirschrote Hündin Luna bei sich, «meine treue Begleiterin». Luna helfe ihm, verletzte Tiere aufzuspüren. Die 9-jährige Bayerische Gebirgsschweisshündin gewinnt mit ihrem sanften Wesen auch sofort die Sympathien der Gruppe.

Bei einem Stall oberhalb des Bergrestaurants Gamplüt und der Seilbahnstation legt Urs Büchler mit seiner Gruppe eine Pause ein. Rund um die Beiz ist Musik, Leute mit Sonnenbrillen und bunten Daunenjacken, schlittelnde Kinder. Kaum zu glauben, dass auf den Felsen des Schafbergs über diesem Rummelplatz Wildtiere leben.

Urs Büchel sucht die Steilwand mit seinem Feldstecher ab. «Da ist einer», sagt er und montiert das Fernrohr auf ein Stativ. Ein Bock mit mächtigen Hörnern grast und kaut in der Sonne friedlich vor sich hin. Er ist gut getarnt, sein massiger Körper hat fast die gleiche Farbe wie das bräunliche Gras. Büchler sagt:

Mir gefallen die Steinböcke im Winter besonders gut, wenn sie mit ihrem dicken dunkelbraunen Pelz wie Bären in den Felsflanken stehen

Jeder Teilnehmer darf in den Feldstecher schauen und den Bock beobachten. Ein bewegendes Erlebnis für eine Stadtsanktgallerin, die nur die eingesperrten Steinböcke des Wildparks Peter und Paul kennt. Einen Steinbock in seinem natürlichen Habitat zu sehen, ist ein erhabenes Gefühl.

Der «König der Alpen» gilt als Symbol für Stärke und Ausdauer. So führen ihn über 50 Schweizer Gemeinden sowie der Kanton Graubünden als Wappentier. Im Alpstein leben 180 Steinböcke. Urs Büchler weiss, wo sie sich aufhalten. Im Winter bevorzugen sie sonnenbeschienene Hänge. Wo Schnee schmilzt, wächst wieder Gras und damit wertvolles Futter.

Bei Schneestürmen suchen die Steinböcke eine Höhle auf

Etwas weiter oben am Schafberg weidet auf den Matten zwischen den Felsbändern ein Rudel aus dreissig Gämsen. Die einen nehmen ein Sonnenbad, die anderen springen herum. Eine Viertelstunde später hat sich der grosse Steinbock noch nicht vom Fleck bewegt. Warum so träge? «Die Steinböcke bewegen sich im Winter möglichst wenig», erklärt Büchler.

Sie reduzieren ihren Energieverbrauch und zehren von den Fettreserven, die sie sich im Sommer angefressen haben. Nur so können sie bei Minus 20 Grad über der Baumgrenze überleben, wo nichts ist ausser Schnee, Fels, Stein und ein bisschen Gras. Büchler deutet auf eine Höhle am Fusse des Moors, eines markanten Bergs in der mittleren Kette des Alpsteins. Darin ziehen sich die Steinböcke zurück, wenn Schneestürme toben.

 Das Abtrennen des Steinbockkopfs ist vollbracht.
Das Abtrennen des Steinbockkopfs ist vollbracht.
Bild: Barbara Vincenz

Büchler will den verunfallten Bock aufsuchen. Die Gruppe spaziert auf einem Wanderweg durch ein Tannenwäldchen oberhalb von Wildhaus. Unter der Steilwand des Schafbergs liegt der abgestürzte Steinbock im Schnee. Fuchsspuren führen zu ihm hin. Nur eine Frau der zehnköpfigen Gruppe will nicht zuschauen. Sie wartet ein Stück weiter weg bei den Rucksäcken.

Zwei Krähen fliegen weg, als die Menschen näher kommen. Die Augen des Steinbocks sind nur noch Höhlen, die Vögel haben sie ausgepickt. Es war ein kräftiger, muskulöser Bock. Er wurde zwölf Jahre alt, das kann der Wildhüter an den langen Hörnern ablesen wie an den Ringen eines Baums. Ein stattliches Alter: Steinböcke werden maximal 17 Jahre alt.

Auch die Rippen des Bocks sind freigelegt, das Fleisch bereits abgenagt. Durch die Kälte konserviert, verbreitet der Kadaver keinen unangenehmen Geruch. Hündin Luna wedelt freudig mit dem Schwanz und winselt aufgeregt.

Urs Büchler, der auch Jäger ist, macht sich mit einem Schweizer Sackmesser an die Arbeit. Packt den Bock an den Hörnern, durchtrennt die Luftröhre. Es knackst. Weil das Tier gefroren ist, fliesst kein Blut. Nicht einmal die Vegetarier in der Gruppe sind befremdet.

Büchler trennt den Kopf fachmännisch und mit vollem Körpereinsatz ab. Das dauert einige Minuten. Er tut dies mit Respekt, sodass nichts Grusliges dabei ist. In der weiten, archaischen Landschaft wirkt es völlig natürlich.

Urs Büchler bezweifelt, dass der Steinbock in einer Lawine umgekommen ist, denn dann wären noch andere Tiere involviert gewesen.

Vielleicht ist er an Altersschwäche gestorben, an einem Steinschlag oder Absturz

Der Winter ist ein Härtetest. Kälte und Hunger raffen schwache Tiere dahin. Ausgerechnet jetzt ist die Brunft der Steinböcke. «Damit die Kitze, wenn sie im Frühling zur Welt kommen, feinstes Gras vorfinden.» Ausserhalb der Paarungszeit leben Böcke und Geissen in getrennten Rudeln.

Ein Fest für Aasfresser

Büchler stülpt einen Plastiksack um den Schädel des Wilds. Er will ihn zu Hause auskochen und später zu Schulungszwecken für angehende Jäger verwenden. «Das Gehörn ist ist etwas Besonderes», sagt Büchler. «Etwas Eindrückliches, das die Natur wachsen lässt wie eine Blume oder einen Baumstamm.»

 Urs Büchler weiss, wo sich die Alpstein-Steinböcke aufhalten.
Urs Büchler weiss, wo sich die Alpstein-Steinböcke aufhalten.
Bild: SRF

Er schultert die zehn Kilo schwere Fracht und trägt sie das steile Flürentobel hinunter nach Wildhaus. Der Kadaver bleibt zurück. «Aber nicht lange: Fuchs, Steinadler, Kolkrabe, Krähe und Bartgeier werden sich freuen», sagt der Wildhüter. Eine wertvolle Nahrungsquelle in der kalten Jahreszeit. Es gehöre dazu, dass alte, schwache Tiere im Winter eingehen und von Aasfressern verwertet werden. «Das ist der natürliche Kreislauf.»

Am Freitag, 11. Februar, ist der Toggenburger Wildhüter Urs Büchler mit seiner Hündin Luna in der Sendung «SRF bi de Lüt – Echte Tierhelden» auf SRF 1 zu sehen.