«Hei nomol» sagt der ukrainische Junge und heitert damit die Kriegsflüchtlinge kurz auf | W&O

11.05.2022

«Hei nomol» sagt der ukrainische Junge und heitert damit die Kriegsflüchtlinge kurz auf

Ein Besuch bei der Familie von Fred Rohrer und Barbara Beck-Wörner in Buchs, die Menschen aus der Ukraine bei sich aufgenommen hat.

Von heini.schwendener
aktualisiert am 28.02.2023
Fünf Kinder spielen zufrieden im grossen Garten eines Einfamilienhauses in Buchs. Gwendolyn und Caroline haben ein Gschpänli aus der Nachbarschaft eingeladen. Mit ihnen tollt auch ein kleiner Junge herum, der nur selten spricht und die anderen nicht zu verstehen scheint. Davyd heisst er. Drei Jahre lang ist er unbeschwert in der Ukraine aufgewachsen. Mitte März hat sich seine Mutter Liudmyla (34 Jahre alt) zur Flucht vor dem Krieg entschieden – zusammen mit ihrem Sohn, ihrer Nichte Nataliia (19) und der Freundin Maryna (26). In zehn Zügen waren sie fünf Tage unterwegs in Richtung Westen. Mit dabei hatten sie die Kleider, die sie trugen, und je eine Tasche. Mehr hätte in den total überfüllten Zugabteilen auch gar nicht Platz gehabt.

Rohrer und Beck-Wörner waren im Kopf schon bereit

Bereits als der Krieg in Syrien ausbrach, haben sich der Mathematiker und Buchser Stadtrat Fred Rohrer und die Biologin Barbara Beck-Wörner überlegt, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Damals hat es aber noch nicht gepasst. Als Russland den Krieg gegen die Ukraine startete und die ersten Flüchtlinge gegen Westen aufbrachen, haben die Beiden das Thema diskutiert, auch mit den Kindern Gwendolyn und Caroline. Barbara Beck-Wörner erinnert sich:
Es sind viele rationale Fragen aufgetaucht, auf die wir keine Antwort gefunden haben. Aber irgendwann haben wir uns gesagt: Wir machen es einfach.

Das Zusammenleben funktioniert gut

Am 19. März standen drei Frauen und ein kleiner Bub vor ihrer Haustüre. Einige Wochen sind seither ins Land gezogen. Das Zusammenleben zwischen Gastgebern und Gästen funktioniere gut, versichern alle. Bisher sind noch nicht einmal Regeln notwendig. Die Gastgeber sagen auch:
Für uns sind die Einschränkungen durch das Zusammenleben von acht Leuten unter einem Dach ohnehin viel kleiner als für unsere Gäste.
Auch wenn die drei Frauen und der kleine Junge aus dem fernen Land sehr froh sind, hier in Sicherheit und gut versorgt zu sein, so haben sie doch vor allem einen grossen Wunsch: Sie möchten möglichst bald wieder in ihre Heimat zurückkehren.

Nicht immer nur Kriegsnachrichten lesen

Der Tag der drei Ukrainerinnen beginnt damit, sich über die neue Lage im Kriegsgebiet zu informieren. Um etwas Abstand zu bekommen, schaut sich Liudmyla die News danach nur noch mittags und abends wieder an. Ihre Sorge gilt ihrem Mann, ihren Verwandten und Freunden, die in der Region Dnipro ausharren und zunehmend von Raketen und Alarmsirenen aufgeschreckt werden. Mit ihnen sind sie wenn immer möglich telefonisch in Kontakt.
 Caroline (links) und Gwendolyn spielen mit dem dreijährigen Davyd im Garten.
Caroline (links) und Gwendolyn spielen mit dem dreijährigen Davyd im Garten.
Als die kleine Gruppe ihre Heimat verliess, war ihr Wohnort im Zentrum der Ukraine vom Krieg erst wenig in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Frauen flüchteten präventiv, vor allem auch wegen des kleinen Davyd. Er weiss nicht, was in seiner Heimat vor sich geht, vermisst in der Schweiz aber seinen Vater. Mit trauriger Stimme und im Wissen, dass sie diese Geschichte nicht ewig aufrechterhalten kann, erzählt seine Mutter:
Ich habe Davyd erzählt, dass wir hier sind, weil wir Fred und Barbara besuchen.

Radiologin ist inzwischen in Deutschland

Liudmyla ist Lehrerin und hofft, hier möglichst bald eine Arbeit zu bekommen, denn das Nichtstun – unterbrochen nur von einigen Deutsch-Intensivkursen in Altstätten – belastet die Mutter zusätzlich. Nataliia setzt im Fernunterricht ihr Studium in Geografie und Tourismus fort – wie schon während der Corona-Pandemie. Maryna ist Ärztin. Die Radiologin findet hier aber wegen der sprachlichen Barriere keine Stelle. Gelegentlich erhält sie Röntgenbilder aus der Ukraine, zu denen sie dann einen Bericht verfasst. Nach dem Besuch des W&O ist Maryna übrigens nach Deutschland abgereist, zu ihrer Schwester, die inzwischen auch aus der Ukraine geflüchtet ist.

Zum Glück spricht die Mutter englisch

«Können wir unseren Gästen genug bieten?» Diese Frage haben sich Barbara Beck-Wörner und Fred Rohrer im Vorfeld immer wieder gestellt. Inzwischen wissen sie:
Wir können ihnen ein Dach über dem Kopf und ein stabiles Umfeld bieten.
Das sei wahrscheinlich schon sehr viel wert. So leben also acht, beziehungsweise inzwischen noch sieben Leute im grosszügigen Wohnhaus der Familie Rohrer und Beck-Wörner in einer Art Gross-WG zusammen. Gelegentlich wird auch zusammen gekocht oder es gibt einen gemeinsamen Ausflug. Dass Liudmyla englisch spricht, erleichtert die Kommunikation. Über den Krieg in der Ukraine reden Gastgeber und Gäste nur selten miteinander.

Mit ein Grinsen im Gesicht ruft Davyd «hei nomol»

Die Kinder der Gastgeber spielen gerne mit Davyd, der unterdessen einige englische und schweizerdeutsche Worte nachplappert. Wenn er aus heiterem Himmel «hei nomol» ruft, heitern sich die Gesichter aller auf. Es wird gelacht und die schweren Sorgen rücken für einen Moment in den Hintergrund. Barbara Beck-Wörner sagt:
Ich glaube, dass uns allen die Kinder in dieser Situation guttun.

Während eineinhalb Jahren Vietnam Demut gelernt

Wie belastend ist die Gastgeberrolle? «Wir haben eineinhalb Jahre in Vietnam gelebt», erzählt Fred Rohrer, dort hätten sie Demut gelernt. «Man hat einfach nicht immer alles selbst in der Hand, dann muss man spontan sein», sagt das Paar. Beide sind Pfadis. Diese «super Lebensschule» habe sie das Zusammenleben gelehrt und sie indirekt auch vorbereitet auf ihre selbstlose Aufgabe als Gastgeber von geflüchteten Menschen aus der Ukraine. Wie lange sie das noch sind, steht in den Sternen. Denn irgendwann wird die Situation mit zwei Erwachsenen und dem kleinen Davyd in einem improvisierten Zimmer wohl nicht mehr so problemlos sein wie im Moment noch.   «Die Motivation der privaten Gastgeber ist sehr hoch» Anfang Mai waren 64 Flüchtlinge aus der Ukraine in Buchs. Mehr als 50 davon sind bei Privaten untergebracht. Abhängig von der weiteren Entwicklung des Krieges, wird die Anzahl der Flüchtlinge in Buchs ansteigen. . Hans Schlegel, Leiter des Sozialamtes Buchs, stellt fest: «Die Motivation der privaten Gastgeber ist sehr hoch. Wir sind ihnen dankbar, denn sie entlasten unser System.» In Buchs steht in Altliegenschaften der Stadt Platz für etwa 50 Personen bereit. Ausserdem haben die Altersgenossenschaft Wetti und die Ortsgemeinde weiteren Wohnraum für etwa 16 Personen zur Verfügung gestellt. Wer Möbel für diese Wohnungen hat, kann sich beim Sozialamt Buchs melden. Ebenso wird weiterer günstiger Wohnraum gesucht, der bei Bedarf für Flüchtlinge aus der Ukraine zur Verfügung gestellt werden kann. Das Sozialamt Buchs nimmt auch Angebote für Arbeitsplätze entgegen, denn es kennt die Qualifikation ihrer Klientinnen und Klienten aus der Ukraine. Das Sozialamt ist für die Unterbringung der Flüchtlinge, die Auszahlung der Asylsozialhilfe, die Anmeldung bei der Krankenkasse, die Organisation und Bezahlung der medizinischen Versorgung und der Sprachschule zuständig. Es steht in Kontakt mit Privaten, die Flüchtlinge aufgenommen haben. Dabei geht es im Wesentlichen darum, wie lange diese Unterbringungen dauern und um die Entrichtung der Pauschale für die Nebenkosten. Dem Sozialamt Buchs stehen vier Freiwillige zur Seite, die für Übersetzungen und für Alltagsfragen der ukrainischen Familien im Einsatz sind. Auch mit der Mintegra arbeitet das Sozialamt zusammen. Bisher hat die Privatunterbringung von Flüchtlingen keine Probleme bereitet. Hans Schlegel weiss aber, dass trotzdem 20 Flüchtlinge den Wunsch äusserten, irgendwann in städtische Wohnungen umziehen zu können, um autonomer zu sein und um die Nähe bei den Gastfamilien hinter sich zu lassen. Was müssen Gastgeber im Vorfeld beachten? Schlegel sagt, die Familie müsse sich insbesondere über ihre Motivation im Klaren sein, sich bewusst sein, dass man dabei an Grenzen stossen könnte. Wie würde man damit umgehen? Könnte man auch Nein sagen? Solche und weitere Fragen müssten im Vorfeld seriös geklärt werden. Und dann sind da noch die bevorstehenden Sommerferien, die bei den Überlegungen nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Denn: Würden dann alle Gastgeber ihre Gäste einfach an die Stadt weiterreichen, wäre das ein riesiges Problem. (she)